Als ich 9 oder 10 Jahre alt war, nahmen die Sommer, und damit die Sommerferien kein Ende. Ich erinnere mich an die Jahre 59 und 60 des zwanzigsten Jahrhunderts. Da Reisen sowieso nicht und Urlaub an fernen Gestaden damals noch kein großes Thema waren, verbrachten wir Kinder unsere Ferientage beim Spiel mit den Nachbarskindern. Davon gab es in der Nachkriegszeit am Bröckerweg recht viele und die Bandbreite erstreckte sich über mehrere Altersgruppen. Für eine Urlaubsreise hätte meinen Eltern neben der Motivation auch das nötige Geld gefehlt.
Aber sie pachteten einen Schrebergarten auf der Berningshöhe, ein knapp 500 qm großes Areal, auf dem mein Vater 1957 ein steinernes Gartenhäuschen errichtete. Es war ein Gemüse- und Obstgarten, dessen Erträge den familiären Speiseplan mit frischem Gemüse ergänzte. Da der Garten in der besagten Zeit nur ein winziges Rasenstück und keinen Sandkasten besaß, hatte er aus heutiger Sicht nahezu keinen Freizeitwert.
Als Kind habe ich diesen Garten geliebt und insbesondere in den Schulferien verbrachten mein Bruder und ich dort so manche Stunde.
Unser Refugium war der kleine „Dachboden“ über dem Gartenhäuschen, der mittels Leiter von der Hofseite aus erreichbar war. Dort und auf dem winzigen Hinterhof zwischen dem „Plumsklo“ und dem Gartenhaus konnten wir uns beim Spielen ausleben.
Im Hof gab es eine primitive Werkbank mit einer eisernen Sohle eines alten Bügeleisens als Amboss. Da war eine Regentonne, in der das Wasser von den Dächern der Häuschen gesammelt wurde. Und es gab Werkzeug und alles was ein Kleingärtner damals so brauchte: Spaten, Schaufel, Harke, Hecken- und Rosenschere, Säge, Hammer, Zange, Draht, Nägel, Teerpappe und Holz in vielen Varianten. Nichts war neu oder gekauft, fast alles irgendwie übernommen oder aus dem Müll gezogen. Eben ganz andere Zeiten, denn Super- und Bau- sowie Gartenmärkte waren damals noch kein Thema. Das Internet und Amazon waren in weitester Ferne.
Die Ferien im heißen Sommer des Jahres 1959 nahmen also kein Ende und uns Ferienkindern zu Hause und im Schrebergarten fiel immer wieder etwas Neues ein, was wir machen konnten. Ich erinnere mich an eine Aktion mit Lehm im Schrebergarten der Eltern. Lehmboden gab es im Schrebergarten an mehreren Stellen. Das ist fruchtbarer Boden, allerdings schwer zu bearbeiten. Uns war das egal, denn wir befeuchteten ihn mit Wasser aus der Regentonne und kneteten so lange darauf herum, bis er richtig geschmeidig war und wir daraus kleine Figuren formen konnten. Manchmal waren auch kleine Steinchen dazwischen, die vorsichtig entfernt wurden. Die Figuren trockneten wir in der Sonne. Ein Hund, eine Schildkröte, ein Elefant und ein Pinguin, daran kann ich mich erinnern. Der Pinguin war mir mit seiner eigenwilligen Form besonders gut gelungen, und meine Mutter fand das auch.
Dass wir unsere Kleidung bei den formenden Arbeiten etwas „eingesaut“ hatten, fand sie wohl weniger gut. Das Standard-Kleidungsstück war zu der Zeit der „Lederarsch“, eine kurze, eher unempfindliche Lederhose, die täglich im Einsatz war. Meine zweite Lederhose bekam ich übrigens als ich 13 war. Die trug ich noch eine Woche, aber Mitte der 60iger Jahre waren Lederhosen für mich „out“, ich trug ab da nur noch maßgeschneiderte lange Stoffhosen. Dagegen konnte ich mich nicht wehren, denn mein Vater war Herrenschneider von Beruf und fertigte tagtäglich Maßanzüge. Also auch für mich. Kleidung von der Stange zu kaufen war damals noch nicht so richtig angekommen.
Zurück zu meinem Pinguin und dessen Geschichte. Dass meine Mutter ihn gelungen fand, hatte ich schon erwähnt. Deshalb motivierte sie uns Kinder, doch ein größeres Exemplar zu modellieren, welches man auf die „Terrasse“ des Gartenhäuschens stellen könne, also eine Art Gartenkunstwerk. Das haben wir dann auch gemacht und mit Steinen, Eisen- und Kaninchendraht sowie jeder Menge feuchten Lehms einen etwa 70 cm großen Pinguin geformt. Ohne das innere Stützkorsett hätte der gefiederte Geselle keine aufrechte Haltung bewahren können und seine Trocknung dauerte ewig. Anders war es bei dem kleinen Exemplar, welches nur etwa 15 cm hoch und schneller durchgetrocknet war.
Am Ende der Trocknungsprozesse wurden beide Exemplare mit Lösungsmittelhaltigen Ölfarben bemalt; weißer Bauch, Kopf, Rücken und Flügel Schwarz und Rot für den Schnabel.
Der große Pinguin stand fortan für einige Jahre im Sommer vor dem Gartenhaus und wurde in der kalten Jahreszeit dort eingewintert. Kein leichtes Unterfangen, den er wog ob seiner massiven Natur etwa 25 bis 30 kg. Gewogen haben wir ihn allerdings nie. Leider ist er nicht sehr alt geworden, denn er war den Temperaturschwankungen und dem Regen ausgesetzt. Die Farbe blätterte ab, der Lehm nahm Feuchtigkeit auf und als er nach einigen Jahren auch nicht mehr transportabel war, nahte sein Ende. Wir konnten ihn umweltfreundlich entsorgen und den verzinkten Kaninchendraht einer neuen Verwendung zuführen.
Anders erging es dem kleinen Pinguin. Er kam auf die Fensterbank im Gartenhaus, zusammen mit dem Elefanten, der aus den Resten eines alten Lampenschirms Stoßzähne aus Aluminium erhalten hatte. Dort verbrachten beide die Zeit fast bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts, denn Mitte der 90iger Jahre gaben meine Eltern den Schrebergarten aus Altersgründen schweren Herzens auf.
Persönliche Gegenstände oder Dinge mit Erinnerungswert nahmen sie mit, alles andere übernahm der neue Pächter. So kamen Pinguin und Elefant in den elterlichen Keller und zu diesem Zeitpunkt hatte ich beide völlig aus den Augen verloren und vergessen.
Nach der Jahrtausendwende räumten meine Eltern ihren Keller auf und meine Mutter übergab mir beide Lehmfiguren, weil sie meinte, ich wolle diese doch sicher als Erinnerung an frühe schöpferische Tätigkeiten aufbewahren. Wollte ich eigentlich nicht, aber als folgsamer Sohn deponierte ich beide Figuren wieder im Kellerregal, dieses Mal im eigenen Heizungskeller.
Dort stünden sie sicher heute noch, hätte ich nicht 2005 alles hinter mir gelassen und meinem privaten Leben eine Wendung verpasst, die mich in das Torhaus des Gutes Krietenstein in Linne bei Bad Essen führte. Es war ein persönlicher Neubeginn nahe Null, denn neben den persönlichen Habseligkeiten, einem Auto und meinem Computer begleiteten mich auch der Pinguin und der Elefant. Ich kann es nicht erklären, aber in speziellen Situationen sind oft die Basics die Grundlagen für Entscheidungen.
Die gemietete Wohnung im Torhaus des ehemaligen Wittlager Burgmann-Hofes Gut Krietenstein war groß und teilte sich über zwei offenen Etagen in einen großen Wohnbereich und ein sehr kleines Schlafgemach auf.
Auf 115 m² Wohnfläche verteilten sich zu Beginn ein Kleiderständer, zwei Campingstühle, ein Zwei-Platten-Kochfeld und eine Luftmatratze. Alles Weitere wurde in den Folgemonaten angeschafft oder gebaut. Viel Platz auch für nicht vorhandene Accessoires, und nun kam die Stunde der Lehmfiguren. Sie kamen wieder auf zwei der vielen Fensterbänke mit der Aussicht auf das Herrenhaus Krietenstein, welches zu diesem Zeitpunkt noch eine Ruine bzw. Baustelle war.
Da sowohl der Pinguin als auch der Elefant farblich recht bieder ausschauten, verpasste ich ihnen einen neuen Grundanstrich. Sie bekamen dann eine filigrane Bemalung, um das Auge des Betrachters zu erfreuen. Mit einer guten Portion Fantasie ausgestattet, könnte man sie für Grabbeigaben aus der Gruft des Tutanchamun halten. Wie ich neben meiner Berufstätigkeit und allen anderen Aufgaben und Herausforderungen des Neustarts noch die Zeit für die Bemalung der Lehmfiguren finden konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Eine Erklärung könnte der fehlende Fernseher liefern, der Zeitfenster offen ließ und bis heute keine Gelegenheit findet, sie zu schließen. Wir haben bis heute keinen mehr angeschafft.
Die Lehmfiguren aus meinen Kindertagen tauchten damit frisch renoviert aus der Versenkung wieder auf. Immerhin waren sie zu dieser Zeit schon etwa 45 Jahre alt. Lehm hat bekanntlich kein Verfallsdatum. Die Geschichte des Pinguins sollte damit aber noch nicht zu Ende erzählt sein.