Klare Genzen

Ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft ist ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist.  Schließlich begegnet man sich am Gartenzaun, auf der Straße und bei vielen gemeinschaftlichen Aktivitäten. Unsere direkte Nachbarin zur westlichen Grundstücksgrenze hin, war über viele Jahre Frau Starke, eine alleinstehende Witwe, die mindestens einmal im Jahr sprichwörtlich aus dem Dickicht der bewachsenen Grundstücksgrenze auftauchte und fragte, ob  ihre über die Jahre überbordend gewachsene Grenzbepflanzung uns irgendwie behindern würde.

Dabei handelte es sich um jene Menge Sträucher und Bäume, die mit der Zeit beachtliche Ausmaße erreicht hatten. Ich erinnere mich, dass wir auf diese Weise eine Kastanie und eine Kiefer los wurden, die sich anschickten, den Horizont zu verdunkeln.

Nachdem Frau Starke verstorben war, übernahm Norbert das Anwesen. Er war ziemlich unkompliziert, ließ alles wachsen wie es wollte und wenn wir ihn auf die in unsere Richtung wuchernde Pflanzenfülle ansprachen, war seine Kommentar stets: „Macht einfach weg, was euch stört.“ Daran hielten wir uns, und alles war gut.

Mit der Zeit war die Grenze zum Nachbarn so zugewachsen, dass man mehr ahnen konnte, wo sie genau verlief. Es gab ein Stück Flechtzaun, an dem wir uns orientierten und an dem wir die Ladestation für den Rasenroboter samt Stromversorgung installierten.  Auch den Begrenzungsdraht für den Mäher führten wir am Bewuchs der imaginären Grenzlinie entlang.

Als wir einmal durch eine Baum-Fällaktion in Sutthausen ziemlich viel Brennholz unterbringen mussten, errichteten wir im Niemandsland hinter dem Komposthausen im Gebüsch einen überdachten Holzstapel, bei dessen Errichtung wir schon ahnten, dass er teilweise bereits auf Norberts Grund stand. Alles Gut… oder?  

Dann ging auch Norbert den Weg alles Irdischen und das Grundstück wechselte abermals seinen Besitzer. Eine junge Familie mit mittlerweile drei Kindern wurden neue Nachbarn. Das Haus wurde umgebaut und erweitert und im Zuge dieser Arbeiten wurde die große Trauerweide gefällt und eine Reihe von kleineren Büschen und Sträuchern beseitigt.

Plötzlich sahen wir, dass nebenan ein Haus stand und das bisherige grüne Dickicht war deutlich durchlässiger geworden. Als dann ein gutes Jahr später im Frühjahr auch der Garten neu gestaltet wurde, fällten  die Landschaftsbauer weitere Bäume und räumten den Bewuchs fast auf der gesamten Grundstückgrenze ab. Lediglich die Kaukasische Flügelnuss blieb erhalten, wurde aber etwas gekappt.

Erst jetzt wurde sichtbar, welche Dynamik die bisherige Grenzziehung erfahren hatte. Der nachbarliche Flechtzaun stand nicht auf der Grundstücksgrenze und unsere Ladestation somit zur Hälfte auf Nachbars Grund und auch der Rasenroboter hatte, dem Efeubewuchs folgend, mal bei uns und mal beim Nachbarn gemäht. Ein von Grenzstein zu Grenzstein gespannter Faden ließ jetzt erkennen, wo Bereinigungsbedarf war.

Am Wochenende, als die Landschaftsbauer nicht arbeiteten, bauten wir das Holzlager und die Ladestation ab und nahmen die Führungsdrähte für den Roboter und eine Reihe von Rasensteinen aus der Erde.  Einem nachbarlichen Neuanfang mit sauberen Genzverhältnissen steht nun nichts mehr im Wege.

Im umgekehrten Fall hätten auch wir das gut gefunden, obwohl die Nachbarn schon signalisiert hatten, auch mit Beulen im Grenzgebiet leben zu können.  Schließlich soll eine neue Bepflanzung kommen, eine Mauer wegen des vorhandenen Gefälles und ein neuer Carport.  Für ein solches Vorhaben sind klare Linien und Grenzen gute Voraussetzungen, finden wir.